Leonardo Weinreich, 2022

Kants kategorischer Imperativ und Universalisierbarkeit

Die Grundidee hinter Kants (1900) kategorischen Imperativ ist, dass eine Handlung nur gut ist, wenn sie durch ein potenzielles, allgemeines Moralprinzip geboten bzw. erlaubt ist, also wenn es immer noch gut wäre wenn jeder die Handlung vollführt (Hübner 2021, S. 195 f.). So sind nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit menschlicher Handlungen Handlungen (bzw. ihr moralischer Status) danach zu beurteilen, ob gewollt werden kann, dass alle Menschen diese Handlungen vollziehen (Hübner S. 152). Dies ist ein zentraler Aspekt in deontologischen Ethiken, aber auch in alltäglicher Moral. Dieses Prinzip ergibt jedoch keinen Sinn, wenn man es auf zu konkrete Handlungen bezieht. So meint Hübner (S. 157 f.), dass man abstraktere Handlungsregeln formulieren muss, welche verallgemeinerbar sein sollen. 

Der moralische Wert einer einzelnen Handlung bestimmt sich nach Kant aus ihrer Maxime, also ihrem allgemeinen Handlungstyp. Moral besteht für ihn wesentlich in allgemeinen Prinzipien, die bestimmen was gut oder schlecht ist. (Hübner (S. 195 f.)) Der kategorische Imperativ (unbedingtes Gebot) als höchstes Prinzip von Kant (1900) lautet in ihrer Formulierung als Gesetzesformel bzw. Universalisierungsformel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Für Kant ist eine Maxime eine Regel, die der Wille bei einer konkreten Entscheidung befolgt, es ist ein Prinzip des Willens. Als Maxime gelten also nur verallgemeinerte Intentionsbeschreibungen bzw. Handlungsregeln. So meint Hübner (S. 175), dass der kategorische Imperativ absurden Folgerungen entgeht, die entstehen können, wenn die Forderung nach für Verallgemeinerbarkeit auf allzu konkrete Handlungsbeschreibungen angewandt wird. Die Grundidee hinter dem kategorischen Imperativ ist, dass eine Handlung nur gut ist, wenn sie durch ein potenzielles, allgemeines Moralprinzip geboten bzw. erlaubt ist, also wenn es immer noch gut wäre wenn jeder die Handlung vollführt.

Eine Maxime besteht für Kant den kategorischen Imperativ jedoch nicht nur deswegen nicht, weil wir nicht vernünftig wollen können, dass alle anderen Menschen ihr als allgemeines Gesetz ebenfalls folgen, sondern auch, weil sie überhaupt nicht verallgemeinert werden kann, ohne einen Widerspruch (in der wechselseitigen Interaktion) zu erzeugen, oder aber auch weil sie einen Widerspruch in der eigenen Natur bedeuten würde, wenn sie zum festen Instinkt würde. Durch die Formulierung „…Maxime, durch die…“ kann der Widerspruch zum vorausgesetzten Willen bestehen, in welchem die Maxime selbst am Werk ist, meint Hübner (S. 194). Verallgemeinerung von bestimmten Maximen kann nach Kant gar nicht gedacht und damit auch nicht sinnvoll gewollt werden. Z. B. wäre Lügen unmoralisch, da es als allgemeines Gesetz sich selbst widersprechen würde, weil jeder eine Lüge vermuten würde, wodurch man durch Lügen seine Zwecke nicht erreichen kann. Die Verallgemeinerung selbst ist keine moralische Frage, sondern bloß eine faktisch-logische Frage des Widerspruchs, meint Hübner (S. 193). Als dauerhafter Instinkt oder als verbreitetes Verhalten können schlechte Maximen entweder gar keinen Bestand haben oder widerstreiten den eigenen Zwecken, meint Hübner (S. 194). Dass eine Verallgemeinerung nicht gedacht werden könne, scheint jedoch eine unnötig komplizierte Überlegung dafür zu sein, dass eine Verhaltensregel selbstwidersprüchlich ist, also sich selbst untergraben würde.

Mit dem kategorischen Imperativ könnte auch gemeint sein, dass eine Maxime sie erfüllen muss, um moralisch (gut) zu sein. Es ist aber auch nicht klar, warum nur Verallgemeinerungen gültig sein sollten, also warum jedes Prinzip des Willens zum allgemeinen Gesetz werden können müsste. So erfüllt z. B. für Kant die Maxime sich dem bloßen Genuss statt der Erweiterung und Verbesserung eigener Begabungen zu widmen nicht den kategorischen Imperativ (Hübner, S. 189 f.). Ab und zu Genuss der Ausbildung seiner Talente vorzuziehen, ist jedoch akzeptabel. Kant als Universalist fordert von legitimem Verhalten Verallgemeinerbarkeit, meint Hübner (S. 195). Es ist richtig, dass erlaubtes Verhalten jedem erlaubt sein sollte, aber es erscheint unklar, warum die zu verallgemeinernden Prinzipien nicht sein könnten, dass man nur im richtigen Maße Genuss der Talentausbildung vorzieht, oder dass Lügen nur in bestimmten Ausnahmefällen erlaubt ist. Für Kant würde letzteres trotzdem das Vertrauen in Versprechen zerstören, meint Hübner (S. 187). Hübner (S. 188 f.) zeigt jedoch Argumentationen, nach denen Lügen durch den kategorischen Imperativ zwar immer schlecht, aber nicht immer verboten wären, weil sie mit anderen Maximen abgewogen werden könnten. Kant argumentiert jedoch für ein kompromissloses Verbot jeder Lüge, was aus guten Gründen sehr fragwürdig ist, und auch zum Teil vielen Menschen sehr befremdlich erscheint, wie Hübner (S. 179, 186) meint. Diesen Rigorismus Kants, welcher jedoch keine notwendige Folge aus dem kategorischen Imperativ sein muss, haben viele Philosophen abgelehnt. (Siehe auch Quante 2017, 132 f.)

Ein Kritikpunkt am kategorischen Imperativ ist, dass er schlicht eine unnötig komplizierte Überlegung ist. Denn man muss nicht überprüfen, ob etwas ein allgemeines Gesetz werden könnte, um festzustellen, ob eine Handlung schlecht oder gut ist. (Dies gilt ebenfalls, wenn man Kants Regel nur auf Prinzipien des Willens anwendet, wie es vielleicht gedacht ist.) Auch ohne den kategorischen Imperativ als Moralprinzip wären bestimmte Handlungen gut oder schlecht. Der kategorische Imperativ erscheint, wie als Reaktion auf den Utilitarismus, gerade nur darin eine Relevanz zu besitzen, Einzelfall-Handlungen, welche an sich schlecht aber mittelbar (und damit mehrheitlich) im größere Maße gut zu sein scheinen, zu verbieten.

Eine den kategorischen Imperativ erfüllende Maxime kann trotzdem zuwider individuellen Normativa sein, durch deren Verletzen kein anderer als die sie vertretende Person selbst zu Schaden kommt. Der kategorische Imperativ ignoriert die speziellen Normativa Einzelner bzw. von Minderheiten, bzw. verbietet sie, da sie kein allgemeines Gesetz werden können. Ob etwas ein allgemeines Gesetz werden kann, hängt von den Normativa der Menschen ab, also davon, ob sie etwas gut oder schlecht finden würden. Es sind diese Normativa, die eine Handlung moralisch gut/schlecht machen, und nicht die potenziellen Normativa, welche alle Menschen als allgemeines Gesetz vertreten könnten. Allgemeine Prinzipien können immer nur größtenteils gut sein, da es Umstände gibt, unter denen es gut ist etwas Schlechtes zu tun.

Auch z. B. Frankena (2012) kommt zu dem Schluss, dass manche Maximen kein allgemeines Gesetz werden können, und dass der Kategorische Imperativ nicht ausreicht, da er nicht alle unmoralische Maximen erfasst bzw. nicht alle unsere Pflichten sich durch ihn begründen lassen.

Kants Moralphilosophie insgesamt erscheint unnötig kompliziert und von stark begrenzter Relevanz. Für Skeptiker ist Kants Gedankengebäude bloß eine philosophische Erfindung, die in eine Sackgasse geführt hat (Quante 2017, 84 f.). Vom kategorischen Imperativ gibt es des Weiteren mehrere verschiedene Interpretationen, von denen keine vollständig mit den Argumentationen und Beispielen von Kant übereinzustimmen scheinen. Der Inhalt des Sittengesetzes bestehe bloß aus formalen Kriterien und nicht aus einem inhaltlich gehaltvollen Prinzip (S. 85). Aufgrund der Probleme des kategorischen Imperativs haben einige Philosophen auch Änderungsvorschläge und eigene Versionen entwickelt.

Siehe des Weiteren den Abschnitt Kants Zweckformel, Würde und normative Relevanz im Buch.


Fazit: Kants kategorischer Imperativ als Universalisierungsgebot für Handlungsprinzipien erscheint unnötig kompliziert und nicht als fundamentales Moralprinzip tauglich, da auch eine Moral mit individuellen Prinzipien und Ausnahmen gut sein kann. Die Gerechtigkeitsintuition gleiche Rechte für alle, auf die der Kategorische Imperativ unter anderem abzielt, ist jedoch berechtigt.


Frankena, William K. (2012) Ethik. Eine analytische Einführung

Hübner, Dietmar (2021) Einführung in die philosophische Ethik

Kant, Immanuel (1900) Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der Wissenschaften

Quante, Michael (2017) Einführung in die Allgemeine Ethik